Hochverarbeitete Lebensmittel – ein Segen und Fluch zugleich?

Immer mehr Menschen möchten wissen, wo und wie Lebensmittel angebaut und produziert werden. Sie möchten Transparenz zur Herkunft und zu den in Lebensmitteln verwendeten Zutaten. Während einige Lebensmittel, wie Obst und Gemüse roh verzehrt werden können, benötigen die meisten Lebensmittel einen gewissen Grad an Verarbeitung, damit sie sicher und gut verdaulich sind. Im Laufe der Evolution wurden dafür immer neuere Werkzeuge, Methoden und Verfahren für beispielsweise das Schneiden, Hacken, Mörsern, Rösten, Fermentieren, Räuchern, Backen oder Frittieren entwickelt. Angestoßen durch die industrielle Revolution durchlaufen inzwischen viele Lebensmittel sehr komplexe Verarbeitungsprozesse, um als verzehrfertig und besonders schmackhaft zu gelten – die sogenannten „hochverarbeiteten Lebensmittel“. Was sind das für Produkte und wie wirken sich hoch verarbeitete Lebensmittel auf die Gesundheit aus?


Was sind hochverarbeitete Lebensmittel?

Lebensmittel werden seit jeher verarbeitet, um in erster Linie genießbar, länger haltbar und besser transportierbar zu sein. Das passiert im Privathaushalt, in der Gemeinschaftsverpflegung und in der Außer-Haus-Verpflegung ebenso wie in der Lebensmittelindustrie. Immer öfter taucht der Begriff „hoch verarbeitete Lebensmittel“ (engl.: ultra processed food, Abk.: UPF) auf. Was darunter zu verstehen ist, darüber herrscht in der Wissenschaft kein einheitlicher Konsens und auch für Verbraucherinnen und Verbraucher ist die Einordnung unklar.
Warum ist das so?

Weder in der EU noch global gibt es eine einheitliche Definition, was hoch verarbeitete Lebensmittel sind. Auch gibt es keine rechtliche Grundlage dafür. Die EU-Verordnung Nr. 852/2004 über Lebensmittelhygiene unterscheidet lediglich „nicht verarbeitete“ und „verarbeitete“ Lebensmittel. Dabei unterliegen letztere einer wesentlichen Veränderung durch Erhitzen, Räuchern, Pökeln, Frisieren, Trocknen, Marinieren, Extrahieren, Extrudieren oder durch eine Kombination aus verschiedenen Verfahren. Laut Deutscher Gesellschaft für Ernährung e.V. (DGE) handelt es sich bei hoch verarbeiteten Lebensmitteln um Lebensmittel und Getränke, bei deren Herstellung die eingesetzten Rohstoffe einem umfangreichen industriellen Verarbeitungsprozess unterzogen wurden. In der Regel enthalten diese Produkte viel Zucker, Salz, ungünstige Fette und Zusatzstoffe wie Farbstoffe, Geschmacksverstärker und Konservierungsmittel. Dagegen ist der Anteil an essenziellen Inhaltsstoffen wie Vitaminen, Mineralstoffen, Ballaststoffen und sekundären Pflanzenstoffen oft gering.

Wurde früher Nahrungsqualität anhand von Ernährungsmustern oder der Menge an bestimmten Nährstoffen ermittelt, rückte im Laufe der Zeit der Verarbeitungsgrad immer mehr in den Fokus. Nicht zuletzt seit der Publikation der sogenannten Nova-Skala von Professor Carlos A. Monteiro von der Universität Sao Paulo in Brasilien in 2017 hat die Forschung begonnen, sich darauf zu konzentrieren, wie Lebensmittel in Bestandteile zerlegt und neu zusammengefügt werden. Weg von der reinen Beschreibung der Zutaten hin zum Grad der industriellen Verarbeitung. Die These von Monteiro et. al. lautet: „Bei gesunder Ernährung kommt es nicht auf die Lebensmittel und Nährstoffe an, sondern auf den Verarbeitungsgrad.“ Er prägte 2009 den Begriff „ultra processed food“. Um den Zusammenhang zwischen dem Verzehr hoch verarbeiteter Lebensmittel und dem Risiko für ernährungsmitbedingte Erkrankungen zu bewerten, haben weltweit verschiedene Organisationen Klassifizierungssysteme entwickelt. Beispielhaft sind das IFIC und UNC in den USA, IARC-EPIC in Europa, sowie SIGA in Frankreich und die NOVA-Klassifikation in Brasilien zu nennen. Diese Systeme teilen Lebensmittel nach dem Grad der Verarbeitung in Gruppen ein. Das gängigste Klassifizierungssystem für wissenschaftliche Studien ist NOVA, das in 4 Gruppen unterteilt ist.

NOVA-Klassifizierung zur Einordnung von Lebensmitteln nach Verarbeitungsgrad

StufeVerarbeitungVerarbeitungszielBeispiele
Stufe 1:
nicht/wenig verarbeitete Lebensmittel
Entfernen nicht essbarer Anteile, Trocknen, Zerkleinern, Mahlen, Filtern, Rösten, Kochen, Fermentieren, Pasteurisieren, Kühlen, Einfrieren, Abfüllen, VakuumverpackenLebensmittel sicher, lagerfähig und genießbar machenGetreide- und Getreideprodukte (Nudeln, Couscous, Polenta), Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte, Nüsse, Samen, Eier, Fleisch, Fisch, Naturjoghurt, Wasser, Tee, Kaffee, Milch
Stufe 2:
verarbeitete Nahrungszutaten, die aus Lebensmitteln der Stufe 1 oder aus der Natur gewonnen werden
Pressen, Zentrifugieren, Mahlen, Zerkleinern, Pulverisieren, Raffinieren Zutaten zum Würzen und Kochen gewinnenÖle, Butter, Schmalz, Honig, Melasse, Sirup, Zucker, Mehl, Salz, Essig
Stufe 3:
verarbeitete Lebensmittel, die aus Produkten der Stufe 1 und Stufe 2 kombiniert und haltbar gemacht oder im Geschmack verändert wurden
Räuchern, Pökeln, Backen, Fermentieren oder durch Zusatz von Konservierungsmitteln und AntioxidantienHaltbarkeit verlängern, Sensorik verbessernObst,- Gemüse-, Hülsenfruchtkonserven, Käse (unverpackt), Brot (unverpackt)
Stufe 4 stark verarbeitete Nahrungsmittel,Raffinieren, Fraktionieren, Hydrieren, Extrudieren, Formen, Vorfrittieren oder durch Zusatz von „kosmetischen“ ZusatzstoffenHerstellung lang lagerfähiger Produkte mit großer Gewinnmarge, verzehrsfertige und besonders schmackhafte ProdukteAbgepacktes Brot, Fruchtjoghurt mit Zucker und Zusatzstoffen, Erfrischungsgetränke, Süßigkeiten, salzige und frittierte Snacks, verarbeitetes Fleisch (z.B. Würstchen), Fertiggerichte.
Quelle: Monteiro CA, Cannon G, Levy RB, et al. Ultra-processed foods: what they are and how to identify them. Public Health Nutrition. 2019; 22(5):936-941

Damit dürfte klar sein: Es wird sich wohl kaum ein Einkaufswagen auffinden lassen, in dem nicht ein sogenanntes hoch verarbeitetes Lebensmittel zu finden ist.

Brasilien hat auf Grundlage von NOVA folgende nationale Verzehrempfehlungen verfasst:
  • Lebensmittel der Stufe 1 sind die Basis der täglichen Ernährung.
  • Lebensmittel der Stufe 2 dienen in kleinen Mengen als Zutaten für Stufe 1.
  • Lebensmittel der Stufe 3 werden in begrenzten Mengen mit Stufe 1 oder 2 kombiniert.
  • Lebensmittel der Stufe 4 sind zu meiden.

Da jedes Klassifizierungssystem ihre jeweils eigenen Kriterien zur Definition von Verarbeitungsgraden zugrunde legt, liegt das Problem jedoch darin, dass Lebensmittel uneinheitlich zugeordnet werden. Folglich führt das zu unterschiedlichen Ergebnissen. Glutenfreie Spaghetti, die Emulgatoren enthalten, sind beispielsweise der Stufe 4 nach Nova zugeordnet – gelten glutenfreie Spaghetti damit als ungesund? Aktuell gibt es noch keine allgemein anerkannte Einstufung von Lebensmitteln als „hochverarbeitet“. Es besteht die Forderung, einheitliche, objektive und eindeutige Kriterien für die Beschreibung von Verarbeitungsgraden festzulegen. Das in 2018 eingeführte SIGA-System – als Erweiterung von NOVA - wird in Fachkreisen als Hoffnungsträger gesehen, zu einer einheitlichen Definition zu gelangen. SIGA enthält klare Kriterien für die Bewertung der Nährstoffe und Zusatzstoffe. Verarbeitung und Rezeptur können somit getrennt erfasst und betrachtet werden, sodass hier eine bessere Differenzierung potentieller Risikofaktoren für ernährungsmitbedingte Erkrankungen erfolgen kann. Zudem gilt SIGA als derzeit einziges Klassifizierungssystem, dass auch weitere Verarbeitungsziele, wie Ernährungssicherheit sowie klima- und umweltgerechte Ressourcennutzung angemessen berücksichtigen kann. Derzeit liegen dem SIGA-System allerdings noch keine Studien zugrunde, sodass hier noch Forschungsbedarf besteht.
Nähere Information: 15. DGE-Ernährungsbericht, Vorveröffentlichung Kapitel 9 (siehe unten)

Für den Einkauf gilt grundsätzlich: je länger die Zutatenliste, desto wahrscheinlicher handelt es sich um ein hochverarbeitetes Produkt.


Wie wirken sich hochverarbeitete Lebensmittel auf die Gesundheit aus?

Der Verzehr stark verarbeiteter Lebensmittel steigt weltweit. Parallel geht die körperliche Aktivität in der Bevölkerung zurück und Übergewicht sowie ernährungsmitbedingte Erkrankungen nehmen zu. Hoch verarbeitete Lebensmittel gelten vielfach als wesentlicher Verursacher. Sind verarbeitete Lebensmittel nun per se ungesund? Immerhin rät die DGE dazu, unverarbeitete oder gering verarbeitete Lebensmittel, wie frisches Obst und Gemüse, bevorzugt in der Speiseplanung zu berücksichtigen. Häufig werden negative gesundheitliche Auswirkungen zumeist auf den geringen Nährwert zurückgeführt. Es sind jedoch noch weitere Faktoren wie der Verarbeitungsgrad oder auch die Aufnahme von Zusatzstoffen zu berücksichtigen.

Durch industrielle Verarbeitungsverfahren können die Haltbarkeit von Lebensmitteln und die Nährstoffverfügbarkeit verbessert, unerwünschte Stoffe entfernt und der Geschmack optimiert werden. Allerdings wird die Schmackhaftigkeit über das Verhältnis von Makronährstoffen (Fette, Kohlenhydrate) zu Salz oder Zucker bestimmt, weshalb hoch verarbeitet Lebensmittel grundsätzlich einen hohen Zucker- und/oder Salzgehalt aufweisen.
Verarbeitungstechniken wie das Erhitzen können die mikrobiologische Sicherheit der Produkte erhöhen und die Verfügbarkeit einiger ernährungsphysiologisch wertvoller Substanzen steigern. Ein Beispiel hierfür ist das Lycopin, das zu den Antioxidantien zählt und freie Radikale im menschlichen Körper unschädlich machen kann. Es kommt u.a. in Tomaten vor, deren Zellstrukturen infolge von hohen Temperaturen aufgebrochen werden, wodurch das ernährungsphysiologisch wertvolle Lycopin vermehrt freigesetzt wird. Ein weiteres Beispiel ist die in Getreide enthaltene Phytinsäure, die die Aufnahme bestimmter Mineralien wie Eisen oder Zink verhindert. Durch die industrielle Verarbeitung wie Mahlen oder den Einsatz von Enzymen (Phytase) kann Phytinsäure erheblich reduziert werden, wodurch sich die Bioverfügbarkeit von Mikronährstoffen in Getreide verbessern lässt. Zudem können gesundheitsschädliche Substanzen wie Lektine in Hülsenfrüchten durch die Verarbeitung unschädlich gemacht werden. Viele chemische Reaktionen oder physikalische Veränderungen tragen zur Lebensmittelsicherheit und zur Bildung wichtiger Lebensmitteleigenschaften, wie Geschmack oder Textur bei. Süßgetränke, wie Limonade oder Cola sind zwar durch die zugefügte Energie in Form von Zucker schmackhaft, liefern jedoch viele Kalorien, ohne zu sättigen. Auch kann eine veränderte Textur die Sättigung beeinflussen. Es wird mehr von dem gegessen, was weich ist. Somit wird manchen industriell hergestellten Broten Weizenhalmfasern (Stroh) zugesetzt, um sie soft zu halten und mit „ballaststoffreich“ zu werben. Das Brot kann durch den geringen Aufwand beim Kauen schneller verzehrt werden, was dazu führt, dass vom Brot mehr gegessen wird. Grundsätzlich sinkt mit zunehmendem Verarbeitungsgrad der Sättigungseffekt. Das wiederum erhöht die Gefahr für häufiges Snacking – einer der Hauptursachen für eine positive Energiebilanz. Stark verarbeitete Lebensmittel weisen zudem einen durchschnittlich geringeren Ballaststoffgehalt auf. So ist beispielsweise der Anteil an den unverdaulichen Kohlenhydraten im frischen, rohen Apfel größer als im Apfelmus und hier wiederum höher als im Apfelsaft. Das schmälert obendrein den Sättigungseffekt.
Auch ist eine erhöhte Aufnahme an Weichmachern, durch die in Plastik verpackten Lebensmittel, oder auch anderen Schadstoffen, die während des Verarbeitungsprozesses entstehen, möglich. Als Beispiele sind Acrylamid, Trans-Fettsäuren oder auch oxidiertes Cholesterin zu nennen. Zudem können durch die Verarbeitung auch ungünstige Wirkungen hervorgerufen werden, wie z.B. Nährstoffverluste. Die Lebensmittelindustrie versucht diese Risiken durch Minimierungskonzepte und verbesserte, schonendere Verfahren einzugrenzen. Zudem können Nährstoffverluste auch durch einen als Anreicherung bezeichneten Prozess wieder ausgeglichen werden. So wird der Zusatz von Nährstoffen zu Lebensmitteln und Getränken weltweit genutzt, um deren Nährstoffgehalt zu verbessern und eine ausreichende Aufnahme von Mikronährstoffen, insbesondere von Vitaminen und Mineralien, in der Bevölkerung zu gewährleisten. Ein Beispiel ist Jodsalz.

Inwieweit nun der Verarbeitungsgrad von Lebensmitteln Einfluss auf Energie- und Nährstoffzufuhr, das Körpergewicht und damit auf die Gesundheit hat, lässt sich nach Angaben der DGE nicht evidenzbasiert bewerten, da eine einheitliche Definition zur Einteilung von Lebensmitteln nach ihrem Verarbeitungsgrad fehlt. Einige Studien liefern Hinweise auf mögliche gesundheitliche Risiken, sind aber für einen ursächlichen Zusammenhang nicht aussagekräftig genug. Weitere Studien seien erforderlich, um die Wirkungen von stark verarbeiteten Lebensmitteln – u. a. Energiedichte, Lebensmittelstruktur/-matrix, Prozesskontaminanten und Zusatzstoffe – auf die Gesundheit besser zu verstehen und mögliche Empfehlungen für den Anteil an hoch verarbeite Lebensmittel an der täglichen Ernährung ableiten zu können.


Fazit

Hochverarbeitete Lebensmittel können nicht als alleiniger Verursacher ernährungsmitbedingter Erkrankungen betrachtet werden – Lebensstil, Bewegungsmangel, Essgewohnheiten, genetische Veranlagung, all dieses spielt eine Rolle. Grundsätzlich sind bei der Ernährung die Portionen und die Abwechslung entscheidend. Eine ausgewogene Ernährung sollte auf eine bunte Vielfalt von Lebensmitteln in jeweils adäquaten Mengen basieren. Das umfasst frische und unverarbeitete Lebensmittel ebenso wie verarbeitete Produkte – beispielsweise Brot, Nudeln, Milch und Käse. Eine Orientierung hierzu bietet der Ernährungskreis der DGE.


Quellen und weiterführende Informationen


Kerstin.Bruser@dlr.rlp.de     www.fze.rlp.de/ernaehrungsberatung